Der fünfte und für uns vorletzte Abend bei YEC 2023 bescherte uns die vielleicht beste Neunte von Mahler, die wir je erleben durften.
Zum ersten Mal dieses Jahr hörten wir die Festivalhymne von der Empore über der Bühne. Die kleine Blechbläsergruppe begann sehr gemächlich, um dann im Mittelteil ordentlich Gas zu geben. Patin des Abends war Sarah Wedl-Wilson, die Interessantes aus der Geschichte des Gustav Mahler Jugendorchesters, das bereits auf der Bühne saß, zu erzählen wusste.
Dann betrat der Dirigent Jakub Hrůša die Bühne und dirigierte das einzige Werk des Abends: die 9. Symphonie D-Dur von Gustav Mahler.

Ehrlich gesagt hatte ich etwas Sorge, dass dieses komplexe Werk womöglich vom Orchester nicht so ganz beherrscht wird (vor Jahren hat sich mal ein Jugendorchester die Zähne daran ausgebissen) oder vom Publikum missverstanden (Applaus zwischen den Sätzen, wie dieses Jahr einige Male erlebt) … – meine Sorgen waren unbegründet.
Das Orchester war topfit, und zwar in technischer wie musikalischer Hinsicht. Die jungen Musikerinnen und Musiker spielten auf absolut professionellem Niveau, und der Dirigent machte buchstäblich alles richtig, insbesondere auch alles, was der Dirigent des usbekischen Orchesters neulich leider falsch gemacht hatte. Dieser Mahler atmete herbstliche Farben, auch in den Tempi; die Abläufe gelangen alle natürlich, nichts wirkte gehetzt oder gestaucht – und da, wo gehetzt wurde (in der Burleske), war es genau das, was die Musik in dem Moment machen musste. Hrůša arbeitete die komplexe Kontrapunktik der Symphonie perfekt heraus, oft blitzten Instrumente(ngruppen) mit einzelnen Motiven heraus, um nach wenigen Tönen schon wieder in den Hintergrund zu treten. Dadurch entstand der Eindruck eines hyperplastischen Orchesterklangs, ähnlich eines HDR-Fotos, auf dem quasi »alles« hervortritt – wodurch widersprüchlicherweise eigentlich nichts hervortritt, aber genau das braucht Mahler.
Der erste Satz, Andante comodo, ein fast halbstündiger Marathon von Apokalypsen. Immer wieder baut sich das Geschehen auf, nur um erneut zusammenzubrechen. Die Höhepunkte überaus kraftvoll, aber dennoch dosiert; nie überrollten Percussion oder Blech das übrige Orchester. Nachdem der erste Satz verklungen war: atemlose Stille. Von den Hustenden einmal abgesehen.
Es folgte ein Ländler, der ebenso harmlos beginnt, wie er später ins Absurde gesteigert wird. Hier haben die Fagotte ihre große Stunde, aber auch hier gibt es Tuttistellen von ungeheurer Kraft.
Dann die Burleske. Der einzige wirklich schnelle Satz der Symphonie, der auch noch laut endet. Hier hatte ich am ehesten die Befürchtung, dass geklatscht wird. Und nach der Fassung, die wir hörten, hätte ich das sogar verziehen: eine absolut großartige Tour de Force des gesamten Orchesters! Tempo, Dynamik, Orchesterpolyphonie, rhythmische Schärfe, Zusammenspiel. Allein die Schlusstakte dieses Satzes waren so elektrisierend, so glasklar musiziert, dass sich dafür schon der Konzertbesuch gelohnt hätte.
Das Adagio schließlich beginnt sehr langsam und leise, über weite Strecken spielen nur die Streicher. Überhaupt scheint mir dieser Satz sehr von den Streichern her gedacht zu sein. Klanglich wunderschön, mit seidigem Ton musizierten sie, und wie schon in den anderen Sätzen wählte der Dirigent genau das richtige Tempo, das richtige Maß an rubato, Dynamik und Artikulation, einfach alles war auf den Punkt. Manches fällt gar nicht auf (bzw. fiele nur auf, wenn etwas nicht gepasst hätte), anderes nur dadurch, dass es so wunderschön gestaltet wurde. Sehr lang dann wiederum der Schluss – allein die letzte Partiturseite dauert über drei Minuten! Wo am Ende der Vierten die Musik in eine andere Sphäre verschwindet, wird hier in der Neunten ganz weltlich gestorben. Aber nicht tragisch, sondern selig, als würde ein sehr alter Mensch Abschied nehmen, traurig zwar, aber nicht bitter.
Selig war auch ich nach diesem Konzertabend. Es gab keine Zugabe – wie hätte man das Gehörte auch steigern wollen? Diese Aufführung von Mahlers Neunter wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Es war überhaupt das Beste, was ich seit sehr langer Zeit gehört habe.

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