»Bitte Ruhe, meine Herren! So kommen wir nicht voran.« Der Vorsitzende versucht, sich durch eine energische Geste Gehör zu verschaffen. Mit mäßigem Erfolg. Er nimmt einen großen Schluck aus seinem Wasserglas und stellt es neben seinen Notizen ab.
Wir befinden uns in der zweiten Sitzung einer ›Künstlergemeinschaft zum Zwecke der Entscheidungsfindung für eine neu zu schaffende Komposition‹, so der offizielle Titel der Gruppe. Es ist ein innerer Dialog mehrerer Persönlichkeiten, die um einen ovalen Tisch platziert je nach ihrer künstlerischen Auffassung zur Gestaltung und zum Gelingen des finalen Werks beitragen. Außer dem Vorsitzenden Alfred Schomburg nehmen teil: Gunter Mahnert, angereist von der Wiener Hofoper, der Bratschist Klaus in de Mitt, die Russen Ivan Skabilski und Alexej Perokjeff sowie Péter Portó aus Ungarn. Unterm Tisch spielt der junge Rühn mit Bauklötzen, hört aber aufmerksam zu, was die Herren besprechen, und brabbelt von Zeit zu Zeit etwas dazwischen, das die Alten teils aufhorchen, teil genervt abwinken lässt, und manchmal auch auf schieres Unverständnis stößt. Der hochbetagte Frank Lift hatte die erste Sitzung erbost verlassen, nachdem sein dringender Rat, eine symphonische Dichtung zu schaffen, von der Mehrheit der Anwesenden abgelehnt wurde.
Man war sich jedoch einig, dass ein Werk für Orchester entstehen soll. Heute werden nun Einzelheiten der Satzfolge und der Besetzung besprochen. Der Tumult, in den wir gerade geraten sind, war entstanden, nachdem Skabilski und Perokjeff darauf bestanden, dass das Orchester ein Klavier enthalten soll – worauf Mahnert diverse andere Instrumentarien forderte, darunter Celesta, Harfen, Orgel und Mandoline, wogegen Portó das Orchester eher klein halten und in de Mitt sogar vollständig auf die Streicher verzichten wollte. Der Vorsitzende Schomburg beendet den Streit mit einem Machtwort: Harfen ja, Orgel nein, über Klavier oder Celesta könne man später reden. Die Streicher bleiben, Schluss aus basta. Der junge Rühn schaut unterm Tisch hervor: »Keine Schreibmaschine…?« Die anderen überhören ihn geflissentlich.
»Lassen Sie uns noch einmal auf die Satzfolge zu sprechen kommen, meine Herren.« Der Vorsitzende schneidet ein anderes Thema an, das bereits vor der Pause hitzig diskutiert wurde. »Wir sind und ja einig geworden, dass wir mehrere Sätze haben wollen. Drei bis fünf war der Konsens, richtig? Herr Portó, Sie hatten doch einen interessanten Einwand vorhin.«
»In der Tat.« Der Ungar meldet sich schüchtern zu Wort. »Die Grenzen zwischen Satz und Abschnitt sind in der Tat fließend. Sehen Sie sich das erste Cellokonzert von Sang-Sang an. Ein Satz oder drei? Und was ist mit Ihrer eigenen Kammersymphonie, ein Satz oder vier? Man sollte nicht einsätzige Großformen aus formalen Gründen ausschließen, oder?«
»Das von Ihnen, Portó!« Mahnert wirkt erstaunt. »Das von Ihnen, der Sie immer eindeutig mehrsätzig schreiben. Außerdem gebe ich zu bedenken, dass von jedem Satzbeginn und jedem Schluss eine besonders starke Wirkung ausgehen kann, ja ausgehen muss. Sie nehmen sich die Chance auf atemlose Stille zwischen den Sätzen, wenn Sie einsätzig oder auch nur attacca durchkomponieren.«
»Jaja, atemlose Stille. Bei dem heutigen Publikum? Vergessen Sie’s!« In de Mitt winkt ab, sichtlich genervt von dieser Diskussion der für ihn kleinlichen Wortklauberei. Ein Satz ist ein Satz, dazwischen ist Stille, sobald der Dirigent abgewinkt hat. So einfach ist das, zumindest für ihn.
»Es hängt ganz vom Stück ab, Herr in de Mitt…« Péter Portó wirkt fast amüsiert über diese Spitze, mit der er in de Mitt kurzfristig sprachlos macht.
In die Stille hört man den jungen Rühn sprechen: »Mehr Krach im Orchester, dann hört man das Publikum nicht mehr!«
Der Vorsitzende verschafft sich Gehör. »Also ich glaube, eine Großform können wir ausschließen. Es sollte mehrere Sätze geben. Wenn wir einen attacca-Übergang machen, sollte sich das im Laufe der Zeit ergeben. Die musikalische Struktur muss es erlauben.« Die anderen nicken zustimmend, obwohl Portó etwas enttäuscht wirkt, dass seine Grundsatzfrage zum Thema ›Satz/Abschnitt‹ so pragmatisch von Schomburg abgebügelt wurde.
An diesem Tag fallen noch andere wichtige Entscheidungen: Außer der Harfe kommen Klavier und Celesta ins Orchester, außerdem dreifache Holzbläser mit Englisch Horn und Bassklarinette. Die Frage, ob das Werk den Titel ›Symphonie‹ tragen soll, bleibt bis dato offen. Portó schlug ›Konzert für Orchester‹ vor, eine Formulierung, der sich in de Mitt anschließen konnte, Mahnert jedoch nicht.

Acht Wochen und einige Sitzungen später. Die Runde sitzt wieder beisammen. Inzwischen werden konkrete Einzelfragen besprochen, so z. B., ob ein gewisses Thema zuerst in den Oboen oder den Celli präsentiert wird, welche Rolle das Schlagzeug in bestimmten Fällen spielen soll und was das für Auswirkungen auf die thematische Arbeit hat. Die Gruppe arbeitet an einem zweisätzigen Werk von etwa 20 bis 30 Minuten. Die Zweisätzigkeit war eine Idee von Portó und in de Mitt, bei der Länge waren sich alle einig bis auf Mahnert, der die zwei- bis dreifachen Ausmaße gewollt hätte. Man hat sich auf den vorläufigen Arbeitstitel ›Symphonisches Konzert‹ geeinigt. Wieder sitzt der junge Rühn unterm Tisch, dieses Mal mit einem Puzzlespiel.
»Meine Herren, ich eröffne unsere heutige Sitzung zum Thema ›Fragen der Harmonik in der Polyphonie des 1. Satzes‹. Herr in de Mitt hat das Wort.« Schomburg weist zu seiner Rechten, der Bratschist nickt ihm zu.
»Wir wollen ja verschiedene Instrumentalgruppen konzertieren lassen. Eine modale Harmonik er- zielt hierbei eine gute Farbigkeit, ohne unverständlich zu werden oder zu viele satztechnische Schwierigkeiten mit sich zu bringen. Passen Sie mal auf!« In de Mitt geht zum Klavier und spielt eine Tonfolge. »Jetzt das gleiche als Kanon, mit verschiedenen Modi.« Wieder spielt er. »Verstehen Sie, was ich meine?«
Portó versteht, hat aber andere Vorstellungen. Er möchte lieber den Tonvorrat stark beschränken und eine Instrumentengruppe nur mit diesen Tönen spielen lassen. Auch stellt er sich vor, gleiche Instrumente in für ihre Klangfarbe typischen parallelen Intervallen zu führen. Schomburg bittet die anderen um ihre Meinung.
»Man kann das kombinieren.«, sagt Mahnert. »Alles zu seiner Zeit.«
Skabilski ist skeptisch. »Ich mache lieber wenige Töne, aber die richtigen. Die Würze kommt aus der Beschränkung.«
»Richtig, mein lieber Skabilski!« Portó fühlt sich bestätigt.
»Ich fürchte, Sie missverstehen mich, Portó. Ich rede von Kargheit: zwei Stimmen, lange Töne, keine weitere Begleitung. Das hat Tiefe!«
Péter Portó seufzt. Schomburg beruhigt ihn: »Herr Mahnert hat recht. Es ist Zeit für alle Ihre Vorschläge. Es wird unser Ausdrucksspektrum erweitern, und alle Modelle lassen sich kombinieren. Es wird Mischformen geben. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Nicht weniger Töne, mehr! Viel mehr!«, hört man unterm Tisch. »Brodeln muss es, wie Lava oder Magma!« Perokjeff ist genervt: »Rühn, setz dich an dein Puzzle und lass uns arbeiten!«

Einige Tage später lautet das Thema ›Feinheiten im Ablauf des 1. Satzes‹. Die Gruppe war sich schnell einig geworden, keinen Sonatensatz zu schreiben, wogegen Mahnert zuerst protestiert hatte, dann aber auf Druck der anderen und aus Gründen der Innovation einlenkte. Stattdessen ist die Idee eines stufenähnlichen Aufbaus entstanden, der nach und nach neues Material vorstellt und dieses am Ende in einer großen Steigerung zusammenfasst.
»Lassen Sie uns noch ein Mal rekapitulieren.« Schomburg tritt zur Tafel und skizziert den formalen Ablauf, während er spricht. »Wir haben nach der Mysterioso-Einleitung den ersten Abschnitt, ein Andante. Dieses«, er zeichnet eine Treppenstufe, »geht über in den zweiten Abschnitt, Moderato. Der Übergang ist weich, wie ein Rutsch auf eine andere Ebene. Der dritte Abschnitt«, er zeichnet eine weitere Stufe, »ist das Allegro, hier haben wir einen harten Schnitt. Der vierte Abschnitt ist der Abschluss und die Zusammenfassung des ganzen Materials. Es ist wieder ein langsames Tempo, etwa wie der 1. Satz Ihrer 5. Symphonie, Herr Perokjeff.«
Péter Portó meldet sich zu Wort. »Der Anfang muss auf alle Fälle pianissimo sein, und sehr langsam. Man darf das Metrum nicht spüren.«
»Richtig, Portó.« Mahnert nickt seinem Kollegen zu. »Jedoch sollten wir gelegentliche sforzati in den hohen Registern zulassen, evtl. mit Schlagzeug. Das verstärkt die Wirkung. Die leisen Takte dann im tiefen Register.«
Der Ungar findet die Idee gut, auch die anderen tragen mit konstruktiven Ideen zu schnellen Fortschritten am heutigen Tage bei. Nachdem die anfänglichen Kontroversen ausgeräumt sind, gestaltet sich die Zusammenarbeit nun spürbar harmonischer.

Weitere sechs Wochen später. Man arbeitet am 2. Satz, der das emotionale Gegengewicht zum stark durchkonstruierten 1. Satz bilden soll. Hier ist Gunter Mahnert in seinem Element.
»Hören Sie mal, welche Wirkung diese kleine None entfaltet!« Er freut sich sichtlich über seinen Einfall, den er der Gruppe am Klavier vorspielt.
Perokjeff steht auf und tritt neben das Instrument. »Großartig, Mahnert! Machen Sie das noch Mal. Was halten Sie von dieser Begleitfigur?« Er ergänzt die mahnertsche Melodie durch eine chromatisch synkopierte Basslinie.
»Fast gut…« Von hinten hört man die leise Stimme Portós. »Sie brauchen noch ein flirrendes Element, etwa Flötentriller oder etwas Ähnliches. Darf ich?« Auch Portó gesellt sich zu Mahnert, und jetzt spielen sie zu dritt.
»Hervorragend, meine Herren! Das ist frisch, das ist leidenschaftlich, das ist mit Liebe. Sehr schön!« Alfred Schomburg ist begeistert und lässt die drei sofort aufschreiben, was sie soeben gespielt haben. »Weiter, wir brauchen für diesen Teil ein optimistisch aufgehellten Abschluss, bevor der nächste Abschnitt kommt. Herr in de Mitt, haben Sie etwas vorbereitet?« »Das habe ich, Herr Vorsitzender. Wir hatten uns ja überlegt, wie wir den Übergang machen wollen, aber was ich jetzt habe, passt nicht gut zu Mahnerts Einfall. Ich werde Ihnen zeigen, warum.«
In de Mitt löst die drei Kollegen am Klavier ab und beginnt seine Erläuterungen. Die Gruppe gibt ihm recht, und gemeinsam findet man eine Lösung, wie man beide Konzepte vereinen kann. So entstehen an diesem Tag viele Takte des 2. Satzes. Es ist ein produktives Miteinander, und man hat Spaß an der gemeinsamen Arbeit. Sogar der junge Rühn erntet bei den anderen wohlwollendes Schmunzeln mit seinen Vorschlägen, die ihrer Zeit so weit voraus sind, dass sie in der Gruppe für absurden Schabernack gehalten werden.

Einige Sitzungen später. Es soll das letzte Treffen sein. Das Symphonische Konzert ist beendet, es geht nur noch um Details.
»Sie werden doch zugeben, Herr Mahnert, dass ein sforzato eine stärkere Bedeutung hat als ein einfacher Akzent?« Perokjeff sieht seinen Kollegen herausfordernd an.
»Natürlich gebe ich das zu, Perokjeff. Die Frage ist doch, ob wir an dieser Stelle«, Mahnert zeigt auf einen Takt in der Partitur, »eine starke Wirkung wollen oder nicht. Ich meine, wir wollen es nicht, hier reicht ein Akzent.«
»Eben, der Akkord der Harfe ist Bedeutung genug.« fügt Schomburg hinzu.
Damit ist Perokjeff nicht zufrieden: »Na gut, aber vierzehn Takte früher ist die Stimmung noch eine ganz andere, hier passt ein sforzato.«
»Wenn Sie so wollen, ja.«, versucht In de Mitt zu vermitteln. »Aber dann sollten wir, um eine Übertreibung des Effekts zu verhindern, sf schreiben und nicht sfz.«
»Damit kann ich leben, wenn wir diesem Ton zusätzlich ein tenuto geben.«, sagt Skabilski aus dem Hintergrund. Perokjeff stimmt ihm zu. Schomburg fasst zusammen: »Also ist das nun der Ausdruck, den wir wollen? Portó, was meinen Sie?« Der Ungar macht eine Schnute und nickt.
»Gut, dann der Schluss. Leere Quinte, wie Sie wollten, Skabilski. Machen wir nun ein morendo oder nicht?« »Ich meine, eher nicht.«, meldet sich in de Mitt. »Wir sollten den Ton halten, leise aber kein diminuendo, dann ein pizz. der Bässe an den Schluss.«
»Nein, nicht an den Schluss, ich bitte Sie!« Portó protestiert energisch. »Das ist viel zu romantisch. Wenn Sie wollen, machen Sie ein pizz., aber in den Ton hinein. Er muss weiterklingen, dann später enden ohne weiteren Zusatz. Wir sind eh schon in den tiefen Registern: Fagotte, Posaunen, Celli. Warum spielen die Bässe nicht die Cellostimme mit?«
»Weil der Schluss sonst zu laut wird.«, erinnert Perokjeff. »Ich finde sowieso, dass auch Posaunen zu laut sind. Lassen Sie uns diesen Part durch zwei Hörner ersetzen. Dazu spielen nur Celli und Fagotte, fertig. Portó hat recht, Herr in de Mitt. Wir lassen das pizz. weg.«
»Guter Vorschlag. Können alle damit leben?« Die Gruppe nickt einhellig, und der Vorsitzende fährt fort. »Dann war’s das, glaube ich. Meine Herren, ich danke Ihnen für Ihre konstruktive Arbeit! Das Orchester wird ein starkes Werk bekommen. Ich schließe damit die Sitzung, kommen Sie gut nach Hause. Wir sehen uns in den Proben!«