Unser dritter Abend beim diesjährigen Festival Young Euro Classic wurde vom European Union Youth Orchestra gestaltet. Manfred Honeck dirigierte ein britisches Werk der Gegenwart und zwei russische Stücke aus dem 20. Jahrhundert, die zu meinen absoluten Lieblingen gehören. Es versprach also, wieder ein spannender Abend zu werden. Dieser begann abermals mit der Festivalhymne von Iván Fischer, und zwar in der Fassung für Streichorchester. Das klang schon viel besser als neulich mit Quintett, allerdings fehlt mir dieses Jahr immer noch das Original mit den fanfarenartigen Klängen des Blechensembles. Pate des Abends war ein Herr, der sich zwar vorstellte, aber nicht im Programmheft stand – ich glaube, er gehörte irgendwie zum Orchester. Er entschuldigte sich dafür, dass er auf englisch sprechen würde, und fand ein paar nette Worte zu Jugend, Völkerverständigung und der einenden Kraft der Musik.
Erstes Werk des Abends war das Larghetto für Orchester von James Macmillan. Ursprünglich als Chorstück entstanden, hatte es der Dirigent des Abends vom Komponisten für Orchester umarbeiten lassen. Es handelt sich um eine ruhig fließende Musik, größtenteils herkömmlich tonal, obwohl das Stück erst 2009 in der Fassung für Chor entstanden war. Die Streicherpassagen haben tröstlichen Charakter, sie werden mehrfach von Bläsersoli abgelöst, die teilweise nicht auf der Bühne stattfanden, sondern im Foyer bei offener Tür, oder hinten im Saal neben dem Lichttechniker… Horn, Trompete und Posaune kamen zu Wort, später auch das Englisch Horn, das auf der Bühne im Orchester spielte.
Es folgte das 3. Klavierkonzert C-Dur op. 26 von Sergej Prokofjew, mein Lieblingskonzert des Komponisten. Das Werk ist ein schönes Beispiel für den »grotesken« Kompositionsstil Prokofjews: Die Tonartbezeichnung grenzt an eine Farce, denn das Stück ist so voller farbiger Rückungen, Chromatismen und anderen Kapriolen, dass die Tonart kaum mehr als an den Satzenden auszumachen ist. Zusammen mit dem motorischen Charakter vieler Passagen macht gerade das den Reiz des Stückes für mich aus. Der Solist Benjamin Grosvenor spielte (natürlich) auswendig, sehr präzise – bei einem Werk wie diesem äußerst wichtig – und dabei hochmusikalisch und mitreißend. Das European Union Youth Orchestra wurde von seinem Dirigenten ordentlich angefeuert und machte das Ganze zu einem konzertanten Fest, dass ich mich frage, warum dieses publikumswirksame Stück so viel seltener auf den Konzertprogrammen steht als das 2. Klavierkonzert Prokofjews. (Bei Rachmaninow gibt es etwas Ähnliches: Hier finde ich das 2. Klavierkonzert viel schöner und eingängiger, doch das »große« 3. wird weitaus häufiger gespielt…)
Nach der Pause hörten wir dann noch die 5. Symphonie d-Moll op. 47 von Dmitri Schostakowitsch. Ebenfalls häufig gespielt, und wir hatten sie auch schon oft im Konzert gehört. Nachdem seine Oper »Lady Macbeth« bei Stalin durchgefallen war und der geächtete Schostakowitsch seine progressive 4. Symphonie daraufhin zurückgezogen hatte, musste er etwas für seine Rehabilitation tun. Das Ergebnis war die 5., offiziell die »Antwort eines Sowjetkünstlers auf berechtigte Kritik«… Nun ja. Das Stück ist wie fast alles von Schostakowitsch doppelbödig – die Kritiker hörten offenbar das heraus, was sie wollten. Etwas sensiblere Hörer finden viel Einsamkeit, Trauer und Resignation, besonders in den leisen Passagen des ersten und dritten Satzes. Zwischendurch gibt es immer wieder große Ausbrüche marzialischer Gewalt (das Stalin-Regime?), bevor die Musik dann wieder auf eine einzelne Melodielinie zusammenfällt. Gerade im Largo fiel es mir dann auf: Ich kann mich an kein Orchester jemals erinnern, das so leise gespielt hätte wie das EUYO. Dass ich Probleme habe, die Musik überhaupt noch zu hören, ist wahrlich selten. Ein Werk wie dieses verträgt allerdings auch das ganze dynamische Spektrum. Der augenscheinliche Jubel am Ende des Finalsatzes ist wiederum keiner – der Schluss darf nicht zu schnell gespielt werden (Honeck hatte das gut im Griff), dann ergibt das keinen Freudentaumel, sondern einen grimmigen, erzwungenen Pseudojubel, der einem fast leidtun muss. Die Streicher sägen so verzweifelt auf ihrem einen Ton herum, dass eigentlich niemand diesen unterdrückten Akt der Rebellion überhören kann. Und doch haben die Sowjets dem Komponisten die 5. als positives, »reuiges« Stück abgekauft; Schostakowitsch blieb am Leben und hatte noch viele Jahre Zeit, einsam-traurig-schöne, sarkastische, wundervoll tiefe und große Musik zu schreiben.
Vielleicht um den Abend am Ende etwas aufzulockern, spielte das Orchester zwei außerordentlich alberne Zugaben: Das erste Stück hätte etwas aus einer Jazzsuite von Schostakowitsch sein können – ich habe aber nicht herausfinden können, was es genau war. Überschäumender Jubel jedenfalls, mit lustigen Soli und viel Schlagwerk gewürzt. Die zweite Zugabe kam dann, als der Dirigent gar nicht mehr auf der Bühne war! Die jungen Musiker spielten einfach, großteils im Stehen bzw. wanderten und tanzten auf der Bühne herum, mancher Flötist bediente spontan eines der Hängebecken … alles endete in einem großen Durcheinander, das selbst ich, der ich seit über 20 Jahren regelmäßig ins Konzert gehe, so noch nicht erlebt habe. Das Orchester hat sichtlich seinen Auftritt gefeiert – mit allem Recht: Es war ein großartiges Erlebnis.