Der Abend im Konzerthaus am 1. Februar war für mich ein denkwürdiges Ereignis. Auf dem Programm standen zwei Werke, die unterschiedlicher kaum sein können: das 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15 von Johannes Brahms und die deutsche Erstaufführung der 22. Symphonie von Mieczysław Weinberg. Hier das ungestüme Frühwerk eines 22-Jährigen, dort das letzte Werk eines 77-Jährigen. Hier Mitte 19. Jahrhundert, dort Ende 20. Hier Deutschland, dort Russland. Hier ein nach langem Ringen in Form gebrachtes Klavierkonzert, dort eine große Symphonie, posthum von fremder Hand instrumentiert. Es spielte abermals das Konzerthausorchester, diesmal unter der Leitung von Thomas Sanderling, dessen Halbbruder Michael Sanderling (eigentlich Cellist) ich ebenfalls schon im Konzerthaus erleben durfte.

Zuerst also Brahms. Der erste Satz beginnt hochdramatisch mit einem profilierten Thema: viele Sprünge, Triller, Paukenwirbel. Die folgenden Abschnitte sind ausgesprochen vielfältig, das edle Seitenthema wird aufgespart, bis das Klavier das Wort ergriffen hat. Insgesamt hat man ein bisschen den Eindruck, der junge Brahms konnte sich vor Ideen kaum retten, so disparat sind die Einfälle teilweise. Dass er es dennoch schafft, das Ganze in eine klassische Form zu bringen, die in sich abgerundet wirkt, zeigt seine frühe Meisterschaft.
Der zweite Satz ist von idyllischer Natur. Heute, zehn Tage nach dem Konzert, ist davon wenig mehr hängengeblieben als dieser Eindruck und die Tatsache, dass das Hauptthema recht viel mit absteigenden (?) Tonleitern gespielt hat.
Im Schluss-Satz zeigt sich typischer Brahms: Rhythmisch markant kommt das rondoartige Thema daher, von leicht volkstümlicher Melodik. So kennt man es auch aus dem späteren Violinkonzert und dem Doppelkonzert für Violine und Cello. Es ist ein kraftvoller Abschluss dieses beeindruckenden Konzerterstlings des noch jungen Komponisten. Insgesamt ein schönes Erlebnis, einen weiteren Brahms einmal im Konzert erlebt zu haben. Besonders angetan haben es mir die vielen kraftvollen Gesten und die Farben der Brahms’schen Orchestrierung, die ich bisweilen als »buttrig« empfinde – was bitte unbedingt als Kompliment zu verstehen ist! Andererseits spürt man trotz des jugendlichen Übermuts eine gewisse Reserviertheit (selbst im Finale scherzt Brahms nicht, immerhin steht das Werk in d-Moll), die m. E. davon zeugt, dass Brahms gebürtig aus Hamburg war. Das ist ein Charakterzug, den man mögen kann. Ich tue es.
Der Pianist gab nach dem Konzert eine Zugabe, die ich weder kannte noch zuordnen konnte. Ein mir unbekanntes Stück von Brahms? Etwas von Liszt? Vielleicht kann mich ein kundiger Leser hier aufklären… Was mir jedoch arg aufgestoßen ist, war die Dame in der Loge neben mir (nur der Gang war zwischen uns), die schon während der Zugabe mit ihrem Handy nicht wenige Fotos und womöglich auch Videos gemacht hat. Einerseits stört das Leuchten des Displays, andererseits ist es respektlos den Künstlern und dem Haus gegenüber, das sich eben genau das Aufnehmen des Konzerts verbeten hat. Mich ärgert solches Verhalten (vielleicht zu sehr), und doch bin ich zu höflich, diese Person dann in der Pause zurechtzuweisen.

Nach der Pause wartete dann eine große Überraschung auf mich. Ich wusste von Weinberg nicht viel: Er war Zeitgenosse und guter Freund von Schostakowitsch, hat diesen um ca. 20 Jahre überlebt und ist von ihm nach Kräften gefördert worden. Stilistisch sind sich die beiden nicht unähnlich, jedoch ist das rhythmisch-motorische Element bei Weinberg zugunsten des melodischen weniger ausgeprägt, und seine Werke sind häufig melancholischer im Ausdruck als die von Schostakowitsch. Mit diesem Vorwissen hatte ich mir die 22. Symphonie vorgestellt: Womöglich ist sie als letztes Werk des Komponisten noch melancholischer als das restliche Œuvre ohnehin schon ist, zudem von Kirill Umansky vielleicht nicht optimal instrumentiert – ich befürchtete im schlimmsten Fall, mich zu langweilen.
Nun, als erstes stellte ich fest, dass mich die Frau mit dem Handy schon wieder nervte, denn sie las und tippte während der gesamten zweiten Konzerthälfte auf ihrem Telefon, was ich als unglaubliche Frechheit empfand. Abermals blendete das Display im Augenwinkel, weshalb ich demonstrativ mein Programmheft zwischen sie und meine Blickachse hielt. Trotzdem half das zuerst nur bedingt, denn mich machte schon das Wissen um ihr Desinteresse aggressiv. Warum geht so jemand in ein Konzert? Es ist mir rätselhaft.
Kommen wir zur Musik. Ich habe mich keine Sekunde gelangweilt! Zwar kenne ich bisher kein anderes Orchesterwerk Weinbergs, aber was Umansky mit seiner Instrumentierung hier geleistet hat, kann man glaube ich getrost als kongenial bezeichnen. Unentwegt war ich fasziniert von den vielen originellen Ideen, sei es motivischer, harmonischer oder formaler Natur, oder auch der Art, wie das Ganze orchestriert wurde. Weinbergs Tonsprache ist schon moderner als die von Schostakowitsch (das Werk ist ja auch erst 1992 entstanden), aber es sind Motive und Themen erkennbar, die miteinander in Dialog treten, es sind harmonische Konzepte erkennbar wie z. B. Bitonalitäten (über einem stehenden Quartenakkord (?) erklingen akkordische Pizzicati, die man als V-I-Wendung verschiedenen Mollkadenzen zuordnen könnte), und auch formal ist die Symphonie klar aber originell konzipiert: Es gibt drei Sätze (Fantasie – Intermezzo – Reminiszenzen), wobei die letzten beiden attacca ineinander übergehen. Der erste Satz endet mit dem erwähnten Quartenakkord (o. ä.) und pizz. in der Solovioline, der dritte Satz endet analog, nur dass die pizz. hier vom Violoncello vorgetragen werden. Modern, plausibel, stimmig.
Insgesamt hat sich mit der 22. Symphonie von Mieczysław Weinberg für mich eine neue Welt eröffnet. Ich bin sehr gespannt und neugierig, seinen Werdegang von der 1. bis zu dem mir nun schon bekannten Opus ultimum nachzuverfolgen. (Die Gesamtaufnahme der 17 Streichquartette liegt auch schon bei mir zuhause und wird in Kürze erkundet.) Ob die 22. so »klingt«, wie Weinberg es gewollt hätte, kann ich nicht sagen. Aber Umansky hat das Werk in großartige Farben gekleidet, wobei ich besonders dankbar dafür bin, dass er die von mir so geliebten Röhrenglocken einsetzt…

Es gibt noch so viel Musik zu entdecken – Weinberg ist für mich vielleicht die Entdeckung des Jahres.

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