Am Freitag fand der Eröffnungsabend des diesjährigen »Young Euro Classic«-Festivals statt, zu dem das Jovem Orquestra Portuguesa angereist war.
Das erste Werk des Abends fiel schon insofern aus dem Rahmen, als dass es überhaupt keine Musik enthielt … könnte man sagen. Es handelte sich nämlich um das »Poème symphonique« von György Ligeti, ein Stück, das nur aus 100 unterschiedlich schnell tickenden Metronomen besteht. Anfangs waren einzelne Geräte natürlich nicht unterscheidbar, es entstand so etwas wie das Geräusch von Regen auf einem Metalldach. Nach uns nach dünnte die Struktur aus, als immer mehr Metronome zum Stillstand kamen. Parallel dazu wurde im Saal das Licht gedimmt, so dass später nur noch einzelne, am Ende ein einzelnes Metronom im nun stockdunklen Konzertsaal tickte und diesem rund 2.000 größtenteils wohlgekleidete Konzertbesucher gebannt zuhörten. Diese Situation war schon etwas absurd. Ich fragte mich zwischendurch, ob es nach einer solchen Darbietung überhaupt Applaus geben kann. Der Dirigent löste das Problem so, dass das nächste Stück ohne Pause direkt anschloss – die Applausfrage stellte sich also nicht.
Es folgte also attacca das Stück »Apneia« von João Caldas (Jahrgang 1995) in der deutschen Erstaufführung. Der Komponist wird im Programmzettel ausführlich zitiert. Er sagt im wesentlichen, dass das Stück aus der Opposition zweier gegensätzlicher Kräfte entsteht, und schmückt das Ganze mit einer Reihe blumiger Metaphern und pseudophilosophischer Phrasen. Als Hörerlebnis bot sich eine großteils statische Musik, deren quasi stehende Klänge immer wieder durch eruptive Elemente aufgebrochen wurden. Insgesamt war also eine Idee erkennbar – wenn auch nicht unbedingt eine, die ich nochmal hören muss.
Nach der Pause wurde die Symphonie Nr. 9 in e-Moll »Aus der Neuen Welt« von Antonín Dvořák gespielt. Von mir sehr oft gehört, besonders als Teenager, aber nur sehr selten im Konzert. Als wir aus dem Foyer in den Saal zurückkehren, wunderte ich mich über den Bühnenaufbau: Keine Orchesterbestuhlung mehr, keine Notenpulte. Nur einige wenige Stühle waren noch auf der Bühne. Dann trat das Orchester auf: Alle Spieler, die man erwarten würde, mit ihren Instrumenten, aber ohne Noten – und barfuß! Ebenso der Dirigent, der wie üblich separat auftrat. Und dann spielen sie Dvořáks Neunte auswendig im Stehen! So groß die Überraschung über diese ungewohnte und mutige Art der Darbietung, so groß war die Freude über die doch andere Energie des Orchesters. Ich hatte den Eindruck, man konnte hören, wie gut jeder Spieler das Stück kennt und seine Stimme beherrscht. Es wirkte alles sehr organisch, lebendig – fast so, als ob die Musik aus dem Moment heraus entstand. Dieses Gefühl hat man weniger, wenn jeder sitzt und aus den Noten liest. Insgesamt also höchsten Respekt für diese Leistung!
Vor der Zugabe sprach der Dirigent einige Worte ans Publikum. Es war nämlich der fünfzigste Jahrestag der portugiesischen Revolution, der sog. »Nelkenrevolution«. Damals war ein bestimmtes Lied im Radio das Erkennungszeichen der Bürger, die es dann mit friedlichen Mitteln schafften, die Diktatur zu beenden. Ebenjenes Lied wurde uns nun als Zugabe vom Orchester präsentiert – allerdings nun wiederum ohne Instrumente: als Chor, a cappella. Auf der Stelle marschierend sangen die jungen Musiker drei Strophen des Liedes, das wohl allenfalls ihre Eltern damals im Radio gehört hatten. Am Ende skandierte der Dirigent so etwas wie »Vive la révolution!« (auf portugiesisch natürlich) und riss sich die Nelke vom Revers…
YEC wurde ja gegründet und gilt als Friedensbotschafter, und so sehr ich die portugiesische Revolution von 1974 und die Erinnerung daran richtig finde, so sehr bin ich im Zweifel, ob ich in Form und Ausmaß diesen Weg gewählt hätte. Es bleibt ein komisches Gefühl, aber das Eindrücklichste an dem Abend war definitiv die aufregendste Neunte Dvořák, die ich im Konzertsaal je erlebt habe.
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