Ich hatte erwartet, dass dieser Abend etwas ganz Besonderes wird. Ich sollte Recht behalten. Gestern war ich im Konzerthaus und hörte das Youth Chamber Orchestra St. Petersburg im Rahmen von Young Euro Classic. Gegeben wurden ausschließlich russische Kompositionen: Tschaikowskys Streicherserenade C-Dur op. 48, ein Oboenkonzert von einem jungen Zeitgenossen und nach der Pause die 14. Symphonie op. 135 von Dmitri Schostakowitsch. Der Pate des Abends Rolf-Dieter Krause hielt seine Einführungsrede lakonisch kurz, jedoch nicht ohne die enge Verwandtschaft der deutschen und russischen Musiktradition zu betonen und einen Seitenhieb an die unsäglichen Pediga-Schreihälse auszuteilen, die eben jenen Traditionsbegriff für ihre Zwecke missbraucht haben.

Wir erwarteten nach der Einführung also das Werk von Tschaikowsky zu hören, aber es traten auch die Schlagzeuger mit auf und sogar die beiden Gesangssolisten, die ja erst im Schostakowitsch zu tun bekamen. Sollten wir etwa erst die Symphonie hören? Tatsächlich war dem so. Das Konzert wurde also in umgekehrter Reihenfolge gespielt. (Ich vermute beinahe Absicht dahinter: Damit niemand nach den »schönen« Werken in der Pause geht und sich vor dem erschütternden Spätwerk Schostakowitschs drückt, wurde die Reihenfolge quasi heimlich umgedreht…) Was wir dann zu hören bekamen, hat meine hohen Erwartungen bei weitem übererfüllt! Elf Lieder über den Tod, vorgetragen in russischer Sprache von Sopran und Bass, dazu lediglich ein kleines Streichorchester und etwas Percussion: Celesta, Xylophon, Vibraphon, Röhrenglocken, Tomtoms, Holzblock, Peitsche, Kastagnetten. 52 Minuten großteils karge Musik, die nur selten ausbricht, tieftraurig, bitterböse. Mitunter zeigt der Text einen rabenschwarzen, zynischen Humor (es waren das russische Original und die deutsche Übersetzung im Programmheft abgedruckt, so dass man dem Gesang folgen konnte), genial gestützt von absurden Melodiefragmenten im Xylophon. Die Sätze gingen teilweise ineinander über, andererseits gab es immer wieder auch lange Fermaten in den Sätzen (gespenstisch, wenn Röhrenglocken in die lange Stille hineinklingen!), so dass man tatsächlich den Text brauchte, um zu wissen, in welchem Satz man sich gerade befand.
Von dem Schluss des Werks hatte ich eine gewisse Erwartung: langsam, leise und ein langes Orchesternachspiel mit morendo-Schluss. Es kam anders. Nachdem die Gesangssolisten verstummt waren, schien die Musik sich aufzubäumen, dann ein Streichertremolo, das Crescendo beginnt, bleibt den Spielern jedoch im Halse stecken – Ende. Regungslos verharren Orchester und Dirigent. Die Spannung war noch lange nicht aus den Interpreten, geschweige denn aus dem Saal, da blökt irgendein (Entschuldigung) Vollidiot »Bravo!« in die Stille, fängt an zu applaudieren und reißt bedauerlicherweise alle mit. Besser kann man seine Beschränktheit kaum offenbaren; ich hingegen hatte lange damit zu kämpfen, mich nicht aufzuregen bzw. mich nicht an seinem Schienbein abzureagieren. (Ich meine nämlich gesehen zu haben, wer es war.) Wie dem auch sei, ich habe mit der 14. von Schostakowitsch ein Werk kennengelernt, wie es kompromissloser kaum sein kann; es war dies sicherlich mit Abstand das Anspruchsvollste, was wir in diesem Jahr gehört haben. Und ich werde es noch oft hören, die Strukturen kennenlernen, sein Wesen verinnerlichen. Wir hatten bereits Mahlers beeindruckende Neunte und das »Lied von der Erde« im Konzert erlebt – beide auch mit Todesthematik, aber ganz anders gestaltet. Mich persönlich spricht die Musik von Schostakowitsch viel direkter an, ergreift, rüttelt auf, bedrückt, schockiert. Das ist ganz, ganz große Kunst.

Nach der Pause ein denkbar großer Kontrast: das Konzert für Oboe und kleines Orchester von Dowlet Ansarokow (Jahrgang 1980) aus dem Jahre 2004. Das war eine freundliche, über weite Strecken fröhliche Musik, die beinahe auch 1920 in Paris entstanden sein könnte. Der Komponist nennt denn auch u. a. Francis Poulenc als Einfluss. Das Konzert ist gut gemacht, abwechslungsreich, eingängig und überraschend tonal. Interessant, dass man als junger Mensch heutzutage wieder so schreiben kann. Der Solist war Aleksandr Bykov; er spielte tadellos, wirkte nur oft sehr schüchtern hinter seinem Notenständer. Wenn er mal zu einem Melodiebogen sein Instrument bewegte, konnte man die Musikalität auch sehen. Wenn nicht, war er manchmal im 1. Rang etwas schlecht zu hören, denn der Schalltrichter der Oboe zeigt ja doch eher nach unten ins Parkett.

Als letztes Werk des Abends erklang die Streicherserenade von Tschaikowsky, also die älteste Musik in der kleinsten Besetzung. Das tat der Wirkung aber keinen Abbruch. Im Gegenteil: Der Dirigent Migran Agadzhanyan verstand es, mit seinem exakten und temperamentvollen Dirigat das Orchester gehörig anzufeuern, das Finale brodelte, der Walzer geriet mir sogar etwas zu schnell. Der Kopfsatz wirkte ein wenig verhaltener, wechselte aber schön zwischen schwelgerischen Teilen und huschenden Sechzehntelabschnitten. Wunderbar wiederum die Elegie: Meine Lieblingsstelle ist die Wiederholung des D-Dur-Themas in den Celli mit dem kurzen Ausweichen in die Mollparallele über die Zwischendominante Fis-Dur…

Was kann nach einem solchen Programm als Zugabe kommen? Eigentlich nichts. Das dachten sich wohl auch die Musiker, und so hörten wir als letzten Gruß nochmal den Walzer aus der Streicherserenade, bevor man uns in die laue Sommernacht entließ.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*