Unser zweiter Abend bei Young Euro Classic stand ähnlich wie bereits der erste im Zeichen der Musik Osteuropas – genauer gesagt Russlands. Eines der Hauptwerke der russischen Symphonik des 20. Jahrhunderts stand auf dem Programm: die 7. von Dmitri Schostakowitsch. Michael Sanderling leitete das Schleswig Holstein Festival Orchester.

Sanderling dirigierte die Festivalfanfare von Iván Fischer in der Streicherfassung mit kleinem Schlagwerk. Die anschließenden Worte eines der Musiker aus dem Orchester kündigten nicht wie gewohnt den Paten des Abends an, sondern begrüßten lediglich das Publikum und nannten die »Leningrader« Symphonie op. 60 in C-Dur von Dmitri Schostakowitsch als einziges Werk des Abends. Hatte sich für den Abend kein Pate gefunden? War er erkrankt oder hatte er abgesagt? Wie dem auch sei, das Format der Siebten erforderte kaum einleitende Worte. Die Musik sprach für sich.

Der erste Satz beginnt mit dem markanten Hauptthema, zuerst unbegleitet und kraftvoll in den Streichern. Sofort wird jedem Zweifler (und selbst mir jedes Mal aufs neue) klar, dass eine CD-Aufnahme das Konzerterlebnis nicht ersetzen kann. So viel Kraft kommt aus keinem Lautsprecher, wie hier von der Bühne den Saal erfüllte. Das zarte Seitenthema steht dann in starkem Kontrast, und die Musik erstirbt fast, bevor im Mittelteil des Satzes der große Marsch beginnt. Dasselbe Thema wird immerfort wiederholt und jedes Mal weiter gesteigert, man ist an Ravels Bolero erinnert, nur soll hier der Eindruck einer sich nähernden Armee entstehen. Die enormen Klangmassen gegen Ende dieses Abschnitts (man kann es kaum eine Durchführung nennen, da das Material so anders ist als in der Exposition) führen zu einer apokalyptischen Wiederkehr des Hauptthemas in Moll! Das Geschehen beruhigt sich und der Satz klingt nicht friedlich, aber im absoluten Pianissimo aus.
Es folgt eine Art Scherzo, wobei hier wie so oft bei Schostakowitsch ein sehr bissiger, sarkastischer Humor zum tragen kommt. Von guter Laune keine Spur. Besonders im Trio ist das zu hören, wenn ein schriller Walzer angestimmt wird voller Klänge, die an Militärsignale erinnern.
Der langsame Satz beginnt mit einem Choral der Holzbläser, gefolgt von einer ausdrucksstarken Streichermelodie. Auch dieser Satz hat ein groteskes Trio, nämlich einen Zirkusmarsch. Solche Stilmittel dienten Schostakowitsch immer als Symbol einer selbstherrlichen Führung – die freilich von den damaligen Machthabern nicht unbedingt verstanden wurden.
Aus dem Adagio schält sich attacca der Finalsatz. Langsam findet das Werk zur anfänglichen Kraft zurück, immer wieder tönen Fanfaren der Trompeten, als wollten sie sagen: »Steht auf! Nehmt euer Schicksal in die Hand!« Besonders markant der Moment, in dem die Streicher ein Motiv im 7/8-Takt intonieren, das verdächtig nach dem Beginn des Songs »Alles neu« von Peter Fox klingt … ein Zufall? Das wäre erstaunlich. Absicht? Das wäre ebenso erstaunlich, denn es würde eine bemerkenswerte Repertoirekenntnis des Songschreibers bedeuten, die ich so nicht erwartet hätte. Es folgen dramatische Steigerungen und Inseln der Ruhe bis zum Höhepunkt des Satzes nach fast 80 Minuten Musik. Dieser Kulminationspunkt, an dem das Hauptthema vom Beginn der Symphonie wiederkehrt, ist eine außerordentlich klangmächtige Apotheose, die es in dieser erschütternden und aufrüttelnden Art nicht oft zu hören gibt.

Das Publikum belohnte diese Großtat des Schleswig Holstein Festival Orchesters unter Michael Sanderling mit langem Applaus und stehenden Ovationen. Gab es eine Zugabe? Nein. Schostakowitschs Siebte hatte alles gesagt.

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