Ein spätromantisches Programm präsentierte das European Union Youth Orchestra am vergangenen Freitag unter der Leitung von Vasily Petrenko: das Cellokonzert von Dvorák und die 5. von Mahler, interessanterweise entstanden innerhalb von nur etwa fünf Jahren. Zwei meiner Lieblingsstücke gespielt vom europäischen Jugendauswahlorchester – die Erwartungen konnten kaum höher sein.

Erfreulicherweise hörten wir die Eröffnungsfanfare, nachdem sie in den anderen vier Konzerten immer von Streichern gespielt wurde, dieses Mal endlich in der Fassung für Blechbläser und Kastagnetten. Nach dem Grußwort von Olaf Scholz (dem wohl niemand übel nahm, dass das, was er zum Thema Musik zu sagen hatte, schnell erschöpft war) ging es los: In der ersten Konzerthälfte hörten wir das Konzert für Violoncello h-Moll op. 104 von Antonín Dvorák, für meine Begriffe eines der schönsten, die je geschrieben wurden. Ich habe zuhause eine Aufnahme mit Jacqueline du Pré, bin also verwöhnt, und habe das Werk im Konzert auch schon mal »nicht gut« gehört. An diesem Abend jedoch war alles gut – fast alles. Solist und Orchester spielten außerordentlich akkurat und musikalisch, temperamentvoll noch dazu. Man hörte die Jugendlichkeit des Orchesters, des Solisten und des Dirigenten gleichermaßen in jedem Moment heraus. Altstaedt spielte auswendig, Petrenko dirigierte nach Noten. Obwohl das Werk eines reifen Meisters, agierte der Solist sehr frisch bis forsch, gewann dem Notentext mir teilweise neue ruppige Seiten ab, die dem Werk aber gut zu Gesicht standen. Dazu passte seine äußere Erscheinung: scheinbar ungestylter Lockenkopf, schwarzer Pulli – sehr unaufgeregtes, jugendliches Understatement. Mehr hatte er nicht nötig, sein Spiel war technisch perfekt, dabei musikalisch modern und auf höchstem Niveau. Mein Problem mit der Interpretation lag woanders: beim Dirigenten. Genauer gesagt, bei seiner Art der Tempogestaltung, insbesondere von lauten Tuttipassagen. Hier neigte Petrenko dazu, das Tempo in einer m. E. unangemessenen Weise anzuziehen, bis zu einem Grad, wo Details der Komposition verschwimmen und schlicht nicht mehr wahrnehmbar sind. Das waren manchmal auch schnelle Läufe des Solisten (ich meine nicht die Glissandi), die dieser in einem Tempo spielen musste, das meine Ohren überforderte, um rechtzeitig zum Tuttieinsatz auf seinem Zielton anzukommen. Das soll nicht heißen, dass der Dirigent das Tempo nicht auch im richtigen Moment zurückgenommen hat. Das hat er durchaus, und diese Stellen wirkten auf mich immer befreiend. Hier begann die Musik zu atmen. Besonders deutlich empfand ich das kurz vor Schluss des Konzerts nach dem Posaunenchoral. Hier beginnt eine ruhige Passage die sich erst kurz vor der Schlusswendung wieder aufbäumt. Petrenko ging hier relativ schnell in den leisen Abschnitt, und ich befürchtete schon, er findet nicht zur Ruhe. Aber er drosselte sehr dosiert das Tempo immer weiter und erreichte kurz vor dem Crescendo ein wahrhaft friedliches Zeitmaß, dass der Aussage der Stelle auch gerecht wird. Es bliebt aber dabei, dass ich einige Stellen ziemlich überstürzt fand, und das zeigte sich auch in der Aufführungsdauer: Das Konzert dauerte am Freitag 38 min. – du Pré braucht 45…
Die Zugabe des Solisten war eine kleine Überraschung: Er schraubte den Stachel seines Cellos ins Instrument und hielt es dann wie eine Gambe zwischen den Beinen fest. Es folgte ein kleines, durchaus virtuoses Barockstück, bei dem er sich von der ersten Cellistin aus dem Orchester begleiten ließ. Eine schöne Geste, und die beiden freuten sich anschließend sichtlich über den Spaß, den sie sich und dem Publikum gegönnt hatten. Es gab noch eine zweite Zugabe: Die Konzertmeisterin begann mit einigen pizzicato-Tönen, der Solist gesellte sich dann zupfend dazu – mehr nicht. Das war wirklich nur noch ein Späßchen, wenn auch ein sehr sympathisches.

Nach der Pause wurde die 5. Symphonie von Gustav Mahler gegeben, die leider im Programmheft mit »cis-Moll« bezeichnet wird – das hatte Mahler explizit nicht gewollt. Die fünf Sätze haben nämlich die ungewöhnliche Tonartenfolge cis-Moll, a-Moll, D-Dur, F-Dur, D-Dur, wobei der eigentliche Hauptsatz der zweite ist (wenn nicht gar das riesige Scherzo im Zentrum der Symphonie) und der Kopfsatz eher als Einleitung fungiert. Mahler zufolge sei also die Frage des Tonart der gesamten Symphonie nicht beantwortbar. Ebenso schade, dass die Formulierung »Wie ein Kondukt« als Bezeichnung des 2. Satzes genannt wird. Sie gehört aber noch zum 1. Satz, denn ein Kondukt ist ein Trauerzug, das passt nicht zum »Stürmisch bewegt« des 2. Satzes.
Musikalisch zeigte sich in dieser großartigen 5. Symphonie von Mahler ein ähnliches Bild wie schon im Dvorák: Alles war fein gearbeitet, leise und langsame Passagen sehr ausdrucksvoll, Petrenko dosierte genau Dynamik und Tempi – und übersteuerte regelmäßig die Tutti-Höhepunkte. Das war schade, denn hier gingen tatsächlich Inhalte verloren, was wahrscheinlich dem nicht auffiel, der das Werk nicht (gut (genug)) kennt. Markantestes Beispiel: die Schlusswendung des Horns im letzten Satz. Sie war überhaupt nicht zu hören, wurde völlig überstrahlt von den drei lärmenden Schlussakkorden. Das hatte ich vorher noch nie so gehört, und ich bin sicher, dass es so nicht gedacht war. Nichtsdestoweniger war dies eine außerordentliche Interpretation der 5. Mahlers, die mir, je öfter ich sie höre, immer lieber wird.
Was kann nach so einem Konzert noch kommen? Richtig, nichts. Das Orchester verabschiedete sich ohne Zugabe vom Publikum, die Spieler gratulierten sich gegenseitig zu ihrem Erfolg, was ich immer sehr schön finde. Und plötzlich, als alle schon standen, fingen einige an, doch noch etwas zu spielen! Nach und nach stimmten die übrigen ein (ohne Dirigent, der war schon abgegangen) und spielten etwas lustig Marschartiges. Es gab sogar eine kleine Choreografie, also war das Ganze schon geplant und geübt gewesen. Vielleicht wollten die Spieler dem Abend die Ernsthaftigkeit etwas nehmen (wir hatten immerhin hochdramatisches gehört). Und so verließen wir schmunzelnd, dankbar und glücklich das Konzerthaus für die nächsten Wochen – und Young Euro Classic bis zum nächsten Jahr.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*